Modern Languages and Literatures, Department of

 

Date of this Version

1-30-2006

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Published in Hölderlin-Jahrbuch 34 (2004/05): 302–329. Copyright © 2006 Hölderlin-Gesellschaft, Tübingen, und Edition Isele, Eggingen. Used by permission.
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Abstract

Wohl im Herbst 1785, kurz nachdem er von seiner Herbstvakanz in Niirtingen zur niederen Klosterschule in Denkendorf zurückgekehrt war, schrieb der funfzehnjährige Hölderlin einen Brief an seinen ehemaligen Pfarrer und Lehrer, den Nürtinger Diakon Nathanaël Köstlin (1744–1826). Es handelt sich um Hölderlins ersten erhaltenen Brief und den einzig erhaltenen Brief des Dichters an Köstlin. Die im Brief geäußerte Zuneigung und Verehrung, sowie der Wunsch, sich dem Pfarrer anzuvertrauen und ihn als Vater zu betrachten, deuten auf die Wichtigkeit dieses Verhältnisses für den jungen Hölderlin, das sich wohl erst während des täglichen Privatunterrichts bei dem Pfarrer zwischen seinem zwölften und vierzehnten Lebensjahr vertiefte. Der Brief wird gewöhnlich als Beweis für den Einfluß des Pietismus auf den jungen Hölderlin verstanden. In seinem Kommentar zu den Briefen erklärt Adolf Beck, Hölderlins “Gewissensprüfung und Selbstanalyse", der der Hauptteil des Briefes gewidmet ist, sei “pietistisch bestimmt”. Die Selbstprüfung ist in der Tat ein charakteristisches Merkmal pietistischer Frömmigkeit, auch im ganzen Spektrum des württembergischen Pietismus. Andererseits hat die Selbstprüfung aber auch einen festen Platz in der lutherischen Tradition der Beichte und der Vorbereitung auf das Abendmahl. Ein Kirchenmann wie Köstlin, der seine pietistischen Neigungen im Einklang sah mit seinen Pflichten innerhalb der lutherischen Kirche in Württemberg, konnte die Selbstprüfung auch innerhalb dieses institutionellen Kontextes thematisieren. An einem Samstagabend, dem 8. Oktober 1785, hielt Köstlin in dem Vorbereitungsgottesdienst auf das Abendmahl eine Predigt über die Selbstprüfung. Dieses Datum fällt in die Herbstvakanz der Denkendorfer Klosterschule; folglich ist es gut möglich, daß Hölderlin als zukünftiger Pfarrer und als ein Verehrer Köstlins in diesem Gottesdienst anwesend war und die Predigt hörte. Hölderlin hat seinen Brief an Köstlin kurz nach seiner Rückkehr aus Nürtingen in Denkendorf verfaßt. Adolf Beck halt es für wahrscheinlich, daß Hölderlin sich hier auf die Rückkehr von der Herbstvakanz 1785 bezieht, die normalerweise an Michaelis (29. September) anfing und drei Wochen später zu Ende ging. Wenn Becks Datierung des Briefes richtig ist, entstand er kurze Zeit, nachdem Köstlin seine Vorbereitungspredigt gehalten hatte. Obwohl es keine ausdrücklichen Anzeichen dafür gibt, daß der Brief von dieser Predigt veranlaßt wurde, legen die zeitliche Nähe beider Texte und ihre thematischen Ähnlichkeiten einen Vergleich nahe.

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