Modern Languages and Literatures, Department of

 

Date of this Version

9-13-2007

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Published in Hölderlin-Jahrbuch. Begründet von Friedrich Beißner und Paul Kluckhohn. Im Auftrag der Hölderlin-Gesellschaft herausgegeben von Michael Franz, Ulrich Gaier und Martin Vöhler. Fünfunddreißigster Band, 2006-2007. © Hölderlin-Gesellschaft, Tübingen, und Edition Isele, Eggingen 2007.

Abstract

Wir schließen also, daß die These, Hölderlin habe chiliastisches Denken von frühauf von seiner pietistischen Umgebung aufgenommen, wohl revisionsbedürftig ist. Obwohl sich die Möglichkeit einer solchen Vermittlung anhand der Köstlin'schen Predigten feststellen läßt, scheint das dualistische Zeitmodell viel tiefere Wurzeln ins Bewußtsein des jungen Dichters geschlagen zu haben als chiliastische Vorstellungen. Wenn Köstlins Predigten und Hillers 'Liederkästlein' für die pietistischen Quellen, mit denen Hölderlin während seiner Kindheit und Jugend in Berührung kam, repräsentativ sind, so kann diese 'Beobachtung nicht überraschen, denn in beiden Fällen kommt das dualistische, auf das Jenseits gerichtete Zeitmodell insgesamt viel häufiger und nachdrücklicher vor als das chiliastische. Hölderlin muRte sich im Laufe seiner Tübinger Zeit vom pietistisch-lutherischen Einflug dieses dualistischen Zeitmodells befreien, um wohl auf anderen Wegen ein rein immanentes Zeitmodell zu finden.

Ähnliches läßt sich für den pietistischen Einfluß im allgemeinen auf den jungen Hölderlin konstatieren. Auch dieser scheint sich auf die bekenntnisnahe, kirchenpolitisch verträglichere Form des Pietismus beschränkt zu haben, die etwa von Nathanael Köstlin praktiziert wurde, wo neben der Heiligung auch lutherische Rechtfertigungslehre und Anthropologie betont wurden. Hinweise auf das spekulative Denken Oetingers und Philipp Matthäus Hahns fehlen im Frühwerk; stattdessen finden wir hier Ideen, die diesem entgegengesetzt sind: die Vorstellung der ewigen Verdammnis der Ungläubigen und eine dualistisch strukturierte Denkart, die sich in der Gegensätzlichkeit zwischen ,HimmelG und ‘Erde' zeigt. Durch den Einflug Klopstocks nimmt Hölderlin theologische Vorstellungen in seine Dichtung auf, die ihn aber von allen Formen des württembergischen Pietismus entfernen. Auch in der Tendenz, Begriffe, die im pietistischen Sprachgebrauch von kirchlichen Institutionen und Bekenntnissen festgeschrieben waren, auf säkulare Gegenstände - insbesondere die Dichtung - zu übertragen, nimmt Hölderlin Impulse aus der zeitgenössischen Dichtung auf. Wenn maq in diesem Zusammenhang aufgrund der Anklänge an pietistischen Sprachgebrauch nur auf die Kontinuität zwischen Hölderlin und dem Pietismus hinweist, übersieht man dabei die wichtigen begrifflichen Divergenzen, die sich vor allem im Hinblick auf die Kirche als institutionalisierten Verwalter der ‘Himmelsgaben’ auftun.

Meine Analyse beschränkt sich weitgehend auf Hölderlins Schulzeit; was sind aber die Implikationen für unser Verständnis der nachfolgenden Dichtung? Wenn wir den Einfluß der theosophischen Pietisten auf Hölderlin vor der Tübinger Zeit ausschlieRen können, so darf die große Wende in seinem Denken am Ende der Tübinger Zeit von einer dualistischen zu einer Ganzheitsphilosophie des hen kai pan nicht auf die pietistische Umgebung seiner Kindheit zurückgeführt werden. Eine Beschäftigung mit den schriften Oetingers und Hahns während der Tübinger Zeit ist nirgendwo belegt, kann aber natürlich auch nicht ganz ausgeschlossen bleiben. Wo aber andere Quellen vorliegen, die Hölderlin bekanntlich gelesen hat und die ihm auch Anstöße in diese Richtung hätten geben können, da wird es gut sein, diese bei der schwierigen Rekonstruktion seines Denkens heranzuziehen, wie es ja auch schon verschiedentlich geschehen ist.

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