Modern Languages and Literatures, Department of

 

Date of this Version

3-2022

Citation

Published in Deutsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 96 (2022), pp. 35–61.

doi:10.1007/s41245-022-00137-x

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Abstract

Zusammenfassung-- Im Jahr 1804 erschien Hölderlins zweibändige Übersetzung, Die Trauerspiele des Sophokles, bestehend aus Oedipus der Tyrann und Antigonae. Zeitgenossen haben u.a. die Titelwahl für seine Ödipus-Tragödie beanstandet, die, so ein Rezensent, gleich vorweg die mangelhaften Griechischkenntnisse des Übersetzers verrate. In diesem Aufsatz wird zunächst die Geschichte des Titels von Sophokles’ erster Ödipus-Tragödie skizziert, von der handschriftlichen Überlieferung bis hin zu volkssprachlichen Übersetzungen und Bearbeitungen, die vor 1805 im europäischen Raum erschienen sind. Der Fokus wird dann ausgeweitet auf die antike Bedeutung von tyrannos und Sophokles’ Verwendung von dieser und anderen Herrscherbezeichnungen in diesem Werk. Eine Analyse von Hölderlins Text im Vergleich zu elf anderen Übersetzungen (drei lateinischen und acht zeitgenössischen deutschen) zeigt eine eigentümliche und weitestgehende Konsistenz in seiner Handhabung des Herrschervokabulars, die einerseits eine gewisse semantische und klangliche Nähe zum Sophokleischen Text bewahrt, andererseits die Interpretation dieses Vokabulars im Sinne moderner, europäischer Herrschaftsinstitutionen verhindert. Hölderlin verwendet ›König‹ allein als Ehrenanrede an Personen von Rang und die Götter, nicht aber als Bezeichnung einer Herrscherposition; tyrannos wird fast ausschließlich als ›Herrscher‹ übersetzt. Abgesehen vom Titel kommt ›Tyrann‹ ein einziges Mal vor als Übersetzung der berühmten Gnome des zweiten Stasimons: ὕβρις φυτεύει τύραννον, die Hölderlin mit »Frechheit pflanzt Tyrannen« wiedergibt. Zum Schluss wird seine Titelwahl unter Berücksichtigung dieser Zeile und der besonderen Bedeutung von ›Frechheit‹ hier und an anderen Stellen in seiner Dichtung gedeutet.

Abstract-- 1804 saw the publication of Hölderlin’s two-volume translation of Sophocles’ tragedies, consisting of Oedipus der Tyrann (Oedipus the Tyrant) and Antigonae. His contemporaries objected, among other things, to his title of the Oedipus tragedy, which, as one reviewer put it, laid bare the translator’s insufficient knowledge of ancient Greek. In this article we will first briefly sketch the history of the title of Sophocles’ work, from the manuscript tradition up through vernacular translations and adaptations that appeared in Europe before 1805. We will then turn to the meaning of tyrannos in ancient Greece and discuss how Sophocles used this and other ruler designations in the Oedipus tyrannus. An analysis of Hölderlin’s text alongside eleven other translations (three in Latin, eight in German) reveals a peculiar consistency in his handling of this vocabulary, which on the one hand preserves a degree of semantic and melodic proximity to Sophocles’ text, on the other hinders equating these terms with modern European institutions of rulership. Hölderlin employs ›König‹ (king) as a form of address for persons of rank and the gods, but not to designate a position of rulership; tyrannos is almost always translated as ›Herrscher‹ (ruler). Beyond the title, ›Tyrann‹ appears only once in Hölderlin’s text, when he translates the famous gnome of the second stasimon, ὕβρις φυτεύει τύραννον, as »Frechheit pflanzt Tyrannen« (Insolence plants tyrants). We conclude with an interpretation of Hölderlin’s choice of title, considering both his translation of this gnomic line and the sense of the word ›Frechheit‹ here and elsewhere in his writings.

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